„Einer unserer Schwerpunkte: Menschen in Haiti helfen, sich auf mögliche zukünftige Katastrophen vorzubereiten“

Sechs Jahre nach dem Erdbeben in Haiti setzt Handicap International die Arbeit fort. Ein Schwerpunkt ist dabei die Aufklärung der Bevölkerung über die Risiken, die von Naturkatastrophen ausgehen. Interview mit Nathalie Derrien, Leiterin von Handicap International in Haiti

Welches sind aktuell die Schwerpunkte von Handicap International in Haiti?

Wir befinden uns in der Übergangsphase zwischen der Phase nach der Notsituation, die infolge des Erdbebens eintrat, und der Phase der langfristigen Projektentwicklung. Beispielsweise hatte das Land während des Erdbebens nur 13 Fachkräfte für Physiotherapie, von denen die meisten im Ausland lebten. Im August 2015 haben wir den erfolgreichen Abschluss der Ausbildung von 72 neuen Rehabilitationstechnikerinnen und -techniker (in den Bereichen Orthopädie und Physiotherapie) gefeiert, die von Handicap International ausgebildet wurden - eine Premiere in Haiti! Wir wollen, dass die Rehabilitationsberufe im Land als echte, offizielle Berufe anerkannt werden. Der Kinderschutz, die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung und Risikomanagement bei Naturkatastrophen sind weitere Schwerpunkte für die kommenden Jahre.

Was unternehmen Sie, um die Risiken, die von Naturkatastrophen ausgehen, zu reduzieren?

Wir unternehmen grosse Anstrengungen in den Gemeinden auf den Gebieten der Prävention und der Aufklärung. In einem Land wie Haiti, wo Orkane und Stürme häufig auftreten, ist es entscheidend, dass die Bevölkerung weiss, wie man sich schützt. Insbesondere haben wir neun Gebiete für mögliche Katastrophen vorbereitet und 224 der schutzbedürftigsten Familien eine spezifische Unterstützung gewährt, so dass diese sich vor Naturkatastrophen schützen können. Wir arbeiten mit den Behörden, dem Katastrophenschutz und anderen Organisationen zusammen, um sicherzustellen, dass die Schutzbedürftigsten nicht von den Plänen zur Katastrophenvorbereitung und -rettung ausgeschlossen werden.

Ist das Erdbeben nach sechs Jahren noch in den Köpfen der Menschen?

Ja. Viele Familien haben Angehörige verloren. Die Bevölkerung spürt die Auswirkungen der Katastrophe nach wie vor. Viele Menschen, die ihr Haus verloren haben, leben immer noch in Lagern. Wir arbeiten daran, diese in andere Gebiete zu integrieren, die für Menschen mit Behinderung zugänglich sein müssen. Ausserdem führen wir bei bestimmten Patientinnen und Patienten weiterhin eine Nachbehandlung durch. Beispielsweise haben wir im Jahr 2010 Moïse, einem vierjährigen Jungen, bei dem infolge des Erdbebens eine Amputation durchgeführt wurde, eine Prothese bereitgestellt. Er ist inzwischen 10 Jahre alt und hat erst kürzlich eine neue Prothese erhalten. Die Auswirkungen des Erdbebens spürt man auch heute noch.

 

 

Erdbeben im Haiti, Januar 2010: Erfahrungsbericht von Moïse