100 Tage Chaos in Gaza: Menschen mit Behinderungen von allem abgeschnitten

Nothlife
Palästina

Mehr als 400’000 Menschen mit Behinderungen versuchen unter schwierigsten Bedingungen zu überleben.

Freizeitaktivitäten, die wir für die Kinder in einem Vertriebenenlager in Gaza organisieren.

Freizeitaktivitäten, die wir für die Kinder in einem Vertriebenenlager in Gaza organisieren. | © HI

Seit dem 7. Oktober und der Eskalation der Gewalt zwischen Israel und der Hamas wurden in Gaza mindestens 23’357 Palästinenser:innen durch die anhaltenden Bombardements der israelischen Streitkräfte getötet und rund 59’410 verletzt (Stand 11. Januar). Die israelische Offensive folgte auf den massiven Angriff der Hamas am 7. Oktober, bei dem 1200 Israel:innen getötet und 240 Israel:innen und Ausländer:innen als Geiseln genommen wurden.

Anlässlich des 100. Tages des Konflikts beschreibt Danila Zizi, unsere Landesbeauftragte für Palästina, die Situation von Menschen mit Behinderungen in Gaza:

Vor welchen Herausforderungen stehen Menschen mit Behinderungen in Gaza nach 100 Tagen Konflikt?

In Gaza leidet die gesamte Bevölkerung, aber Menschen mit Behinderungen – schätzungsweise 441’000, was 21 % der Bevölkerung entspricht  – sind mit noch grösseren Problemen konfrontiert. Sie benötigen Hilfe in grundlegenden Bereichen wie Sicherheit, Zugang zu Nahrung, Unterkunft und grundlegenden Gesundheitsgütern. Ihre Würde und ihre Menschenrechte sind unmittelbar bedroht.

Mit mehr als 22’000 Toten und mehr als 50’000 Verletzten durch Bombardierungen und Artilleriebeschuss seit dem 7. Oktober wird die Zahl der Menschen, die bleibende Behinderungen davontragen, wahrscheinlich stark ansteigen. Ebenso ist die Situation von Menschen mit chronischen Krankheiten, die keinen Zugang mehr zu medizinischer Versorgung haben, und von älteren Menschen in diesem Zusammenhang sehr besorgniserregend.

Sind Menschen mit Behinderungen besonders von Gewalt und Vertreibung betroffen?

Viele Menschen mit Behinderungen wurden von ihren Familien, ihren Freund:innen und ihren Betreuungspersonen getrennt. Manche können den Evakuierungsbefehlen nicht folgen und ihr Zuhause nicht verlassen. Ein hörgeschädigter Mensch kann zum Beispiel anfliegende Raketen nicht hören und ist dadurch gefährdet. Viele haben ihre Hilfsgeräte und Medikamente verloren, was sie noch verletzlicher macht.

Unsere Teams haben kürzlich einem Kind mit zerebraler Lähmung geholfen. Die Familie musste das Haus fluchtartig verlassen und die Medikamente und die Ausrüstung des Kindes zurücklassen. Jetzt leidet es unter schmerzhaften Muskelkrämpfen.

Wie erhalten Menschen mit Behinderungen in Gaza trotz aller Schwierigkeiten Hilfe?

Menschen mit Behinderungen haben wie die gesamte Bevölkerung in Gaza nur schwer Zugang zu humanitärer Hilfe, die in Gaza sehr begrenzt ist. Der Mangel an Hygieneartikeln, angemessenen sanitären Einrichtungen und Pflegediensten ist die Ursache für viele Infektionen. Kürzlich trafen wir einen Mann, der, nachdem er einen Rollstuhl erhalten hatte, berichtete, dass er seine Ernährung eingeschränkt habe, um die Benutzung der Toiletten zu reduzieren, die öffentlich und für ihn sehr schwierig zu benutzen sind. Wer sich im Rollstuhl auf kriegszerstörten Strassen fortbewegen muss, keine Möglichkeit hat, sich auszuruhen, in einer Notunterkunft lebt usw., ist ständig Gefahren ausgesetzt. Der Einsatz von schweren Explosivwaffen in Gaza in einer noch nie dagewesenen Intensität verschärft die täglichen Schwierigkeiten von Menschen mit Behinderungen.

Ist Handicap International in der Lage, Hilfsgüter zu verteilen?

Wir haben in den vergangenen zwei Monaten fast alle in den drei Warenlagern von Handicap International in Gaza gelagerten Hilfsgüter verteilt und damit 3500 Menschen geholfen.
Nach 21 Tagen des Wartens an der Grenze konnten Ende Dezember acht Lastwagen mit Hilfsgütern für unsere Organisation in den Gazastreifen einreisen. So konnten wir 300 Rollstühle, 50 mobile Toilettenstühle, 250 Krücken und 150 Krückenaufsätze an Menschen mit Behinderungen oder Verletzungen liefern. Demnächst werden wir 430 Hygienepakete, 450 Hygienepakete für Frauen und Mädchen und 150 Toilettenhilfen an vertriebene Familien verteilen, die in Notunterkünften leben.

Seit dem 7. Oktober ist die Bevölkerung von Gaza von der Grundversorgung mit Trinkwasser, Nahrungsmitteln, Strom, Telekommunikation und Treibstoff abgeschnitten. Die Lieferung von Hilfsgütern durch humanitäre Helfer:innen ist lebenswichtig, besonders für Menschen mit Behinderungen und verletzte Zivilist:innen, die nicht flüchten können oder deren medizinische Versorgung zurückgelassen wurde.

Was ist heute eure grösste Sorge als humanitäre Organisation?

Wir sind alarmiert über die sehr hohe Zahl ziviler Opfer, das Fehlen eines sicheren humanitären Zugangs und die begrenzte Zahl von Lastwagen, die täglich in den Gazastreifen gelangen können. Gemeinsam mit mehr als 800 Organisationen fordern wir einen sofortigen Waffenstillstand, um das Blutvergiessen zu beenden und sicherzustellen, dass die humanitäre Hilfe die betroffene Bevölkerung erreicht.


Unsere Präsenz in Palästina 

Unser erstes Projekt in Palästina startete 1996. Seit 27 Jahren unterstützen unsere Teams die palästinensische Bevölkerung – sowohl im Westjordanland als auch in Gaza – in verschiedenen Bereichen. Wir führen in Palästina Projekte in den Bereichen Katastrophenvorsorge und Risikominderung, körperliche und funktionelle Rehabilitation, wirtschaftliche Integration und Erholung sowie inklusive Bildung durch.

15 Januar 2024
Einsatzländer

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