Die städtischen Gebiete sind mit Unmengen von Sprengmunitionen belastet
Die Menge von explosiven Überresten des Krieges in Syrien hat eine solche Konzentration erreicht, nicht zuletzt durch die Intensität der Bombardements, dass eine Säuberung von diesen mindestens 30 Jahre in Anspruch nehmen wird. Eine solche Säuberung ist unabdinglich, um die Syrer vor dieser allgegenwärtigen Gefahr zu schützen. Erklärungen von Emmanuel Sauvage, dem Koordinator von Handicap International im Kampf gegen Antipersonen Minen und explosiven Überresten.
Die Zerstörung der Stadt Kobané und die Allgegenwärtigkeit von explosiven Überresten des Krieges | © P.Houliat / Handicap International
Emmanuel Sauvage, in Amman stationiert, Regionaler Koordinator für Minenaktionen.
Emmanuel Sauvage arbeitet seit 2002 mit Handicap International zusammen, er leitete das Programm in Bosnien-Herzegowina, wo er insbesondere die Säuberungsarbeiten in den von Antipersonenminen verseuchten Gebieten überwachte. Er war auch technischer und strategischer Berater beim Kampf gegen Minen im Irak, in Afrika, in Tadschikistan und in Birma.
Seit April 2014 koordiniert er das Programm zur Reduzierung der Risiken durch konventionelle sowie improvisierte Waffen, im Rahmen der Nothilfe in der Syrienkrise.
© Sarah Pierre / Handicap Internationalrnational
Wie ist die Situation in Syrien, was explosive Überreste des Krieges angeht?
Ich arbeite seit 22 Jahren im humanitären Einsatz, ich war schon an vielen Kriegsschauplätzen, in Bosnien Herzegowina, Somalia, im Irak … aber ich habe noch niemals eine so massive Zerstörung erlebt wie hier in Syrien.
In Bosnien, in Mostar, einer Stadt, die zwischen 1992 und 1995 36 Monate lang belagert wurde, wurden entsetzlich viele Menschen getötet und das historische Zentrum sowie einige andere Gebäude zerstört. In Kobane, im Norden Syriens, wurde beinahe die gesamte Stadt zerstört, in nur vier Monaten, in denen die Kämpfe und Bombardements andauerten.
Der Konflikt dauert nun bereits 5 Jahre mit einem Niveau von Brutalität und Zerstörung, das kaum mehr vorstellbar ist: humanitäre Hilfe erreicht Kobane, das sich an der türkisch-syrischen Grenze befindet, aber es fehlen uns jegliche Informationen aus dem Inneren Syriens, da wir dort keinen Zugang zu den bombardierten Gebieten haben. Wir können nur auf Basis dessen, was wir in Kobane sehen, vermuten, wie die Situation in den momentan nicht erreichbaren Gebieten ist.
Die grössten Städte des Landes (Damaskus, Homs, Alleppo,) waren oder sind immer noch Schauplatz von Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und verschiedenen bewaffneten Konfliktparteien, ohne von den Bombardements der internationalen Koalition zu sprechen, die von Amerikanern oder Russen durchgeführt werden. Ein beträchtlicher Teil der Bomben explodiert nicht sofort, sondern bleibt im Boden oder in den Gebäuden stecken. Deshalb kann man jetzt schon sagen, dass in den städtischen Gebieten eine enorme Menge dieser explosiven Überreste bleiben wird, die folglich eine ebenso grosse Gefahr für die Zivilbevölkerung in den sehr dicht besiedelten städtischen Gebieten darstellen.
Vielen ländlichen Gebieten ergeht es ähnlich auf Grund der nicht enden wollenden Kampfhandlungen zwischen der Vielzahl bewaffneter Parteien. Es ist deshalb vorstellbar, dass es nicht mehr möglich sein wird, das ländliche Syrien gänzlich von dieser Gefahr zu befreien, wenn man bedenkt; dass im Norden und Osten von Frankreich, sowie in Belgien immer noch jedes Jahr Blindgänger aus den beiden Weltkriegen gefunden werden.
Wieviel Zeit würde man benötigen, um Syrien gänzlich von explosiven Überresten zu reinigen, wenn der Konflikt heute beendet würde?
Eine Säuberung von explosiven Überresten Syriens ist nur bei einer Beendigung der Feindseligkeiten möglich. Um den Vergleich von vorhin wieder aufzunehmen: Bosnien wurde bisher nur zu 50% entmint, trotz 20 jähriger Aktivität unter Einsatz von beträchtlichen Mitteln. Mehr als 500 000 Menschen sind immer noch von dem Problem der Minen und nicht explodierter Munition betroffen. Nach offiziellen Schätzungen befinden sich immer noch 120 000 Minen und nicht explodierte Munition in den betroffenen Gebieten. Das Problem ist also immer noch aktuell. Die schweren Überschwemmungen im Mai 2014 haben eine grosse Anzahl an Minen und explosiven Überresten verschoben, was unsere Einsatzkräfte gezwungen hat, Sensibilisierungskampagnen über die Gefahren, die von diesen Waffen ausgehen, bei dem Anteil der bislang verschont gebliebenen Bevölkerung neu zu starten.
In Syrien liegt eine Besonderheit des Konfliktes darin, dass sowohl von den bewaffneten Gruppen als auch von den Regierungstruppen improvisierte Bomben benutzt werden. Die Kosten, die eine Beseitigung dieser improvisierten Waffen verursacht, sind um ein Vielfaches höher als bei konventionellen Anti Personen-Minen. Die Schutzausrüstungen der Entminer sind bei so leistungsstarken Waffen unbrauchbar. Das bedeutet, dass man die Techniken der Entminung verändern muss. Ein anderer Aspekt, der die Säuberungsarbeit beträchtlich erschweren wird, ist die unglaubliche Dichte an explosiven Überresten in den vom Konflikt betroffenen urbanen Gebieten. Eine Studie, die wir im April 2015 in Kobane durchgeführt haben, hat einen Durchschnitt von 10 Munitionen pro Quadratmeter im Stadtzentrum ergeben. Wir haben also eine erste Schicht von Bomben zu entschärfen, dann eine Schicht Trümmer, unter der sich weitere mögliche explosive Überreste befinden.
Dies bedeutet enorme Risiken für die Sicherheit der Entminer, und wird die Arbeit der Säuberung von Explosivmaterialien enorm in die Länge ziehen. Im Frühling 2015 haben die Entminungsteams von Handicap International schon mehr als 10 Tonnen nicht explodierte Überreste aus den Trümmern geborgen und entschärft. Der Beweis, dass unsere Arbeit die Bedrohung durch die Blindgänger für die Bewohner der betroffenen Gebiete bereits verringern kann.
Eine noch nie dagewesene Mobilisierung der internationalen Gemeinschaft wird notwendig sein, um Syrien von den explosiven Überresten zu befreien. Es wird zweifellos mehr als 30 Jahre dauern, um die Risiken auf dem syrischen Gebiet zu eliminieren. Diese Arbeit ist essentiell, um der Bevölkerung eine Rückkehr in ihre Städte zu ermöglichen, in ihre Häuser, auf ihre Felder...
Können die Syrer unter diesen Bedingungen nach Hause zurückkehren?
Sobald es eine Gefechtspause gibt, versuchen die geflüchteten Familien nach Hause zurückzukehren. Die Menschen, die zurückkehren, versuchen oftmals auf eigene Faust Entminungen vorzunehmen, explosive Überreste aus ihren Häusern, ihrer Umgebung, aus ihren Feldern zu entfernen, denn sie müssen auch ihre Felder bestellen, um ein Überleben zu sichern.
Dieses Vorgehen ist äusserst gefährlich, denn die betreffenden Personen sind normalerweise nicht über die Risiken, die von den explosiven Überresten und improvisierten Bomben ausgehen, informiert. Es gibt nicht genügend Entminungsteams vor Ort, sie sind nicht ausreichend ausgebildet, koordiniert und angeleitet, um die Sicherheit der Menschen, die zurückkehren möchten, zu garantieren.
Bedingung für eine Rückkehr der syrischen Flüchtlinge in ihre Häuser ist also vor allem von einer schnellen Beilegung des Konfliktes abhängig. Die ist unabdingbar für einen Zugang der humanitären Hilfe, um die Arbeit einer Säuberung von nicht explodierten Überresten zu ermöglichen oder ganz einfach um die Städte wieder aufzubauen… je mehr der Konflikt festgefahren ist, umso unrealistischer erscheint ein Wiederaufbau. Man kann nicht auf einem Trümmerfeld, das mit explosiven Überresten gespickt ist, Wiederaufbau leisten.
Wie ist die Stimmung unter den Syrern nach 5 Jahren Krieg?
Nach mehr als 5 Jahren Krieg sind wir momentan Zeugen einer dramatischen Verschlechterung der Lebensbedingungen der Flüchtlinge in den angrenzenden Ländern. Zivilisten, die in Syrien geblieben sind, haben keinen sicheren Zugang mehr zu den essentiellen Dingen wie Gesundheitsfürsorge und Bildung, auch weil die humanitären Akteure keinen Zugang mehr haben.
Zu den ökonomischen und sozialen Konsequenzen des Krieges kommen langfristig die Traumata. Darum muss man sich unbedingt kümmern, wenn man nicht eine ganze Generation verlieren will.
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Nadia Ben Said
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