Die Situation in Gaza übertrifft alles, was ich je in humanitären Krisen erlebt habe
Violette Van Bever, Spezialistin für Rehabilitation in Notsituationen, war im April und Mai 2024 in Gaza im Einsatz, um die Teams von Handicap International zu unterstützen. Sie schildert eine humanitäre Katastrophe.

Eine Rehabilitationssitzung in einem Lager für Vertriebene | © Violette Van Bever / HI
Welche Aufgabe hatten Sie bei diesem Hilfseinsatz in Gaza?
Ich bin Physiotherapeutin und arbeite seit acht Jahren im humanitären Bereich, hauptsächlich bei Handicap International. In Gaza war ich als Rehabilitationsspezialistin im Einsatz. Meine Hauptaufgabe war es, unsere Teams vor Ort fachlich zu unterstützen.
Wie ist diese Mission verlaufen?
Ich konnte drei Wochen in Gaza bleiben, vom 24. April bis zum 20. Mai. Wir waren zunächst in Khan Yunis stationiert und mussten dann aus Sicherheitsgründen nach Al-Zawaida evakuiert werden. Der Alltag war geprägt von den ständigen Geräuschen der Drohnen und Bombenangriffe – die Fensterscheiben zitterten dauernd. Das war mit Abstand die intensivste und beängstigendste Situation, die ich je erlebt habe.
Haben sich diese Umstände direkt auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Ja, massiv. Jeder Ortswechsel benötigte eine Sicherheitsgenehmigung am selben Morgen – mit sehr knappen Zeitvorgaben. Anfangs durften wir uns erst ab 9 Uhr oder 9.30 Uhr bewegen und mussten gegen 14 Uhr zurück sein. Das hat unsere Arbeitszeit stark verkürzt. Einige unserer Büros mussten sogar vorübergehend evakuiert werden, weil die Luftangriffe zu nahe kamen.
Mit welchen Verletzungen wurden Sie vor Ort konfrontiert?
Der Bedarf ist riesig. Ich habe hauptsächlich schwere Fälle gesehen: frische Amputationen, komplizierte Knochenbrüche, Schädel-Hirn-Verletzungen und Rückenmarksverletzungen. Dazu kommen viele Komplikationen, weil die medizinische Versorgung komplett zusammengebrochen ist.
Sie sprechen von Materialmangel. Wie stark behindert das Ihre Hilfe?
Wir stehen vor einem dramatischen Mangel. Wir haben nur noch knapp 20 Rollstühle und Krückenpaare übrig. Dabei haben wir über 1800 Menschen identifiziert, die auf Mobilitätshilfen angewiesen sind – rund 800 davon benötigen einen Rollstuhl. Der Zugang zum Norden des Gazastreifens ist praktisch unmöglich. Selbst wenn wir Material hätten, könnten wir es oft nicht verteilen. Und andere Organisationen können diese Lücke auch nicht schliessen – alle stehen vor denselben Problemen.
Wie setzen Sie in so einem Umfeld Ihre Ziele?
Unsere Ziele sind sehr pragmatisch geworden. Wir konzentrieren uns darauf, die Betroffenen und ihre Betreuungspersonen aufzuklären – zum Beispiel darüber, wie man Druckgeschwüre, Versteifungen und Infektionen verhindert. Es geht darum, ein Minimum an Selbstständigkeit zu ermöglichen. Das ist keine Rehabilitation, wie wir sie aus normalen Verhältnissen kennen. Wir versuchen einfach, das Beste aus unseren beschränkten Mitteln zu machen.
Was hat Sie am meisten bewegt?
Die Intensität des Konflikts. Und unsere Teams. Sie sind unglaublich engagiert, obwohl sie selbst vom Krieg betroffen sind. Aber auch das Gefühl der Ohnmacht, wenn man Menschen mit grossen Leiden sieht und weiss, dass man ihnen trotz aller Anstrengungen nicht das geben kann, was sie bräuchten. Das ist sehr schwer auszuhalten. Wir haben es mit einer schrecklichen Notlage zu tun, die anhält, sich verschlimmert und wo die Handlungsmöglichkeiten winzig sind. Trotzdem machen unsere Teams weiter. Denn jede noch so kleine Geste zählt.
In so extremen Verhältnissen kann man sich vorstellen, dass Rehabilitation für Menschen, die bereits Mühe haben, genug zu essen oder sauberes Wasser zu bekommen, keine Priorität haben kann.
Genau, das ist ein gravierender Faktor. Bei der Hygiene gibt es rote Linien, die wir nicht überschreiten dürfen, um keine Komplikationen zu verursachen. Diese Regeln sind aber sehr schwer einzuhalten, wenn man die Lebensbedingungen der Patientinnen und Patienten sieht: extreme Enge, Wassermangel, kaum Material zum Waschen. Manchmal erhalten Verletzte Hygienesets, um das Infektionsrisiko zu senken, aber unsere Vorräte sind mittlerweile aufgebraucht.
Ausserdem ist die Ernährungslage katastrophal. Proteinmangel verlangsamt die Wundheilung, erhöht das Infektionsrisiko und macht jede Rehabilitation viel weniger wirksam. Es gibt kein Fleisch, keine Eier und keine Milch mehr. Das verfügbare Gemüse stammt ausschliesslich aus Gaza selbst. Die wenigen Produkte, die über die humanitäre Hilfe hereinkommen, sind selten und oft abgelaufen. Es ist ein ständiger Kampf.
Wie war Ihr Kontakt zur Bevölkerung?
Bei meinen Arbeitskolleginnen und -kollegen spürte man eine enorme Erschöpfung. Sie sind nicht hoffnungslos, aber psychisch stark belastet. Seit Ende des Waffenstillstands herrscht ständiger Stress. Sie kommen zur Arbeit, lassen ihre Kinder zurück, leben in einer extrem unsicheren Umgebung – und bleiben dennoch unglaublich engagiert.
Mit den Menschen, die wir unterstützen, hatte ich wegen der Sicherheitsauflagen weniger direkten Kontakt. Was ich aber feststellen konnte, war eine tiefe Dankbarkeit gegenüber Handicap International. In einigen Gebieten ist unser mobiler Ansatz die einzige Möglichkeit, überhaupt Zugang zu Rehabilitation zu erhalten. Es gibt keine ambulanten Strukturen mehr, nur noch wenige Gesundheitseinrichtungen mit sehr strengen Aufnahmekriterien. Chronische Fälle werden oft gar nicht berücksichtigt.
Kann Handicap International heute noch wirksam helfen?
Wir geben unser Bestes, aber wir sind am Anschlag. Unsere Bestände an orthopädischen Hilfsmitteln sind fast leer, der Zugang zu den Gebieten wird immer weiter eingeschränkt und die Risiken für unsere Teams sowie für die Menschen, denen wir helfen, werden immer schwerer zu bewältigen. Wenn wir unsere operative Handlungsfähigkeit komplett verlieren, gibt es weder stationäre Behandlung noch mobile Teams.
Die Folgen wären schwerwiegend. Menschen würden irreversible Behinderungen entwickeln, ernsthafte medizinische Komplikationen bekommen oder sogar in lebensbedrohliche Zustände geraten. Ohne Rehabilitation könnten manche Amputierte nie mit einer Prothese versorgt werden. Andere würden unter infizierten Druckstellen oder grösseren Funktionsverlusten leiden. In einer Situation, in der nicht einmal die Grundbedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Wasser gedeckt sind, macht das die Betroffenen noch verwundbarer. Es ist ein Teufelskreis.
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Nadia Ben Said
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