Kanhara – die Geschichte einer Kämpferin
Die zehnjährige Kanhara wohnt in einem kleinen Dorf an der Strasse, die die Städte Kompong Cham und Siem Reap miteinander verbindet. Dieses kleine Mädchen musste sich sein rechtes Bein und den rechten Arm amputieren lassen, nachdem es von einem Lastwagen angefahren worden war. Da war Kanhara gerade einmal vier Jahre alt. Seit 2015 bekommt sie Unterstützung vom Handicap International Rehabilitationszentrum in Kompong Cham. Die zehnjährige Kanhara betrachtet uns mit ihrem sehr ernsten Blick. Es ist der Blick eines tapferen Mädchens, das das Leben nicht geschont hat und das bereits in diesen jungen Jahren weiss, was es heißt, ums Überleben kämpfen zu müssen.
Kanhara und Ponleu | © S. de Groeve / Handicap International
Eine Überlebende
Denn Kanhara ist eine Überlebende. Wenn man dieses Kind sieht, kann man nur die Willenskraft bewundern, die ihm das Überleben ermöglicht hat. Kanhara hat einen an der Schulter amputierten Arm und statt des rechten Beins eine Vollprothese bis zur Hüfte.
Sie spricht kaum über den Unfall, an den sie sich nur verschwommen erinnert. Das ist kein Wunder, denn sie war kaum vier Jahre alt an dem Tag, als ein unvorsichtiger Fahrer sie mit seinem LKW überfuhr.
Ihre Mutter hat hingegen eine sehr lebhafte Erinnerung an die Ereignisse. „Wie könnte ich das vergessen? Es war der Tag, an dem meine Schwester heiratete. Kanhara spielte zusammen mit anderen Kindern am Strassenrand. Dann kam ein LKW die Strasse herunter. Bei dem Aufprall wurden ihr Arm und ihr Bein beinahe abgerissen.“ Zuerst wurde sie ins Krankenhaus in Kompong Cham gebracht, aber Kanhara war in einer so schlimmen Verfassung, dass sie der Arzt, der sie untersuchte, nicht aufnehmen wollte. Daher wurde sie nach Phnom Penh gebracht.
In Phnom Penh wurden schwere Operationen an ihr durchgeführt. Ein Teil der Haut von ihrem linken Bein musste dazu verwendet werden, die verletzte Schulter zu behandeln. Sie blieb sechs Monate lang im Krankenhaus. Während dieser sechs Monate sassen Kanharas Mutter und Vater abwechselnd an ihrem Bett.
„Wir wussten nicht, ob sie überleben würde. Sie war so schwer verletzt, aber sie weinte nicht.“
Der Weg nach Phnom Penh ist weit für eine einfache Familie wie die ihre, und Krankenhäuser sind teuer. Die Familie bekam eine Entschädigung vom LKW-Fahrer, der den Unfall verursacht hatte, aber die reichte nicht einmal aus, um die Krankenhauskosten zu decken. „Er hatte Unterstützung, deshalb zogen wir es vor, uns gütlich zu einigen statt vor Gericht zu ziehen, was uns nichts gebracht hätte“, seufzt ihr Vater. Korruption und Vetternwirtschaft stehen auch in Kambodscha an der Tagesordnung.
Aber Kanhara kämpfte. Und sie überlebte. Sie konnte nach Hause zurückkehren. Und sie wuchs dort weiter auf, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten. „Sie war sehr allein und konnte praktisch nirgendwohin gehen.“
Auf dem Weg in die Selbständigkeit
Und dann, eines Tages im Jahr 2015, kam Davann ins Dorf, die Sozialarbeiterin im Rehabilitationszentrum von Handicap International. Sie traf Kanhara und schickte sie ins Rehazentrum, damit sie eine Prothese bekam. Das gab dem kleinen Mädchen eine neue Lebensperspektive.
„Jetzt kann sie zur Schule gehen!“
Die Mutter ist begeistert davon. Kanhara hat Freundinnen. Am Anfang war es schwierig in der Schule, weil die anderen Kinder sie nicht akzeptierten. Das änderte sich jedoch, als jemand vom Rehazentrum kam und ihnen erklärte, dass sie nicht andere ablehnen dürfen, nur weil diese eine Behinderung haben.
Kanhara läuft zur Schule, die nicht weit von ihrem Zuhause entfernt ist. Manchmal begleitet ihre Mutter sie. Sie ist eine gute Schülerin und eine der besten ihrer Klasse. Später möchte sie Sängerin werden. Auch ihr Vater ist Sänger von Beruf. „Ich habe sechs beste Freundinnen, wir spielen immer zusammen. Unser Lieblingsspiel ist Verstecken. Darum mögen wir auch die Sonntage so gern: wir müssen nicht in die Schule!“ Und wenn sie nicht mit ihren Freundinnen spielt, setzt sie sich ins Zimmer zu ihren Cousinen und spielt mit ihrer jüngeren Schwester und manchmal mit einem Nachbarskind auf dem Smartphone.
So wächst Kanhara auf, ganz wie alle Kinder. Von Tag zu Tag wird sie selbstständiger, und ihre Mutter kann sich auf sie verlassen. Sie zieht sich ganz alleine an und legt ihre Prothese an. Und sie passt auch auf ihren kleinen Bruder und ihre jüngste Schwester auf. Die Mutter kann mittlerweile ohne Sorge andere Arbeiten rund ums Haus erledigen, denn sie weiss, dass Kanhara bei den Kindern ist.
Nach unserem Gespräch ist es Zeit für Ponleu, den gerade ein Jahr alten Bruder, seinen Mittagsschlaf zu machen. Er folgt seiner grossen Schwester, die ihn mit ihrem verbliebenen Arm in eine Hängematte hebt und ihn zudeckt. Dann beginnt sie ihn zu schaukeln. Aber heute möchte er nicht wirklich einschlafen, trotz der Hitze. Er interessiert sich mehr für die Katze, die friedlich unter einer kleinen Kommode sitzt. Ponleu windet sich aus der Hängematte und versucht die Katze zu fangen, bevor sie hinausläuft.
Dann legt sich Kanhara in die Hängematte und nimmt die Katze auf den Schoss. Die Katze ist ihr Lieblingstier. Sie schaut in die Ferne. Worüber kann ein zehnjähriges Mädchen, das schon so viele Schwierigkeiten erlebt hat, nachdenken? Aber wenn man sie fragt, was ihr Traum ist, antwortet sie schlicht: „Später ein eigenes Auto zu haben. Ein blaues. Das ist meine Lieblingsfarbe…“
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Nadia Ben Said
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