Mossul: „Unser Leben ist wie ein Drama“
Shahed, 12 Jahre, kommt aus Mossul. Am 9. März 2017 gerieten sie und ihre Familie zwischen die Fronten eines erbitterten Gefechts. Shahed wurde so schwer verletzt, dass die Ärzte ihr Bein amputieren mussten. Ihre Mutter und ihr Bruder starben. Jetzt lebt sie zusammen mit ihrem Vater und ihren Geschwistern im Flüchtlingscamp Khazer im Irak. Ein Team von Handicap International versorgt sie mit Physiotherapie und leistet auch psychologische Unterstützung.
Shahed in ihrem Zelt im Camp Khazer. | © E. Fourt / Handicap International
Shahed sitzt auf einer Matratze auf dem Fussboden. Geduldig wartet sie auf Mohammed, den Physiotherapeuten von Handicap International. Mohammed kommt seit ein paar Tagen zu ihr in das Zelt, das sie gemeinsam mit ihrem Vater und Geschwistern bewohnt. Sobald Mohammed da ist, kann die Physiotherapiestunde mit Shahed beginnen. Vater Firas ermutigt sie immerzu, während sie tapfer die Übungen ausführt. Shahed stellt sich aufrecht hin und versucht, das Gleichgewicht zu halten. Mit Mohammeds Hilfe lernt sie, wieder zu stehen. Ein grosser Moment – es ist das erste Mal seit ihrem Unfall, dass sie es schafft, alleine aufzustehen. Vor zweieinhalb Monaten wurde sie bei einer Explosion schwer verletzt, als sie und ihre Familie aus der Stadt Mossul fliehen wollten. Ihre Mutter und ihr Bruder haben diesen Tag nicht überlebt.
„Es war am 9. März“, beginnt Firas zu erzählen. "Die Armee erreichte unsere Wohngegend. Wir lebten seit Monaten im Keller unseres Hauses und schützten uns dort vor den Bombenangriffen. Doch an diesem Tag war die Bombardierung so heftig, dass wir beschlossen, die Flucht zu riskieren. Zuerst schlichen wir uns von Haus zu Haus, um den Strassenkämpfen zu entgehen. Doch letztlich landeten wir in einem Haus, das voller improvisierter Sprengsätze war und wir mussten denselben Weg zurück nehmen, den wir gekommen waren. Der einzige Fluchtweg führte durch die Strassen. Plötzlich wurde die Bombardierung viel heftiger, die Frauen und Kinder begannen zu schreien und wollten sich hinter den parkenden Autos verstecken, die auf beiden Seiten der Strasse standen. Doch eines der Autos war mit einer Sprengfalle versehen…“
„Noch immer traumatisiert“
Shahed schliesst ihre Augen. Bevor er die Geschichte weiter erzählt, wartet Firas, bis seine Tochter mit den Physiotherapieübungen fertig ist und bittet sie, draussen mit ihren Geschwistern spielen zu gehen. „Sie ist immer noch komplett traumatisiert von dem, was uns geschehen ist“, sagt er und senkt den Blick zu Boden. Bei diesem Satz beginnt Shaheds Grossmutter, die ebenfalls im Zelt sitzt, zu weinen. Sie steht auf und geht nach draussen. Dann beschreibt uns Firas, wie heftig die Explosion war und wie er zusehen musste, als sein ältester Sohn direkt vor seinen Augen getötet wurde. Er erinnert sich an das Gefühl der totalen Hilflosigkeit, als ihm inmitten all der Explosionen, Feuergefechte und dem ohrenbetäubenden Lärm bewusst wurde, dass er vielleicht nicht alle seine Kinder retten könnte. Durch das Chaos während und nach dieser Ereignisse vergingen zwei Wochen, bis er herausfand, dass Shahed noch lebte und wo sie war. Und weitere zwei Wochen, bevor er mit seinem jüngeren Sohn wieder vereint war, dessen Körper mit Wunden durch Granatsplitter übersät war. „Es fühlte sich an wie in einem völlig verdrehten indischen Film voller unerwarteter Wendungen. Das ist die Tragödie des irakischen Volks – unser Leben ist wie ein Drama“, sagt er.
„Die physiotherapeutische Behandlung ist enorm wichtig für Shahed“, erklärt Mohammed. „Aber die psychologische Unterstützung, die wir ihr geben können, ist genauso bedeutend. Sie wird erst wieder auf die Beine kommen, wenn sie sich psychisch besser fühlt. Und sie wird sich körperlich erst erholen, wenn sie wieder laufen und sich bewegen kann. Deswegen ist die Unterstützung durch unsere Psychologin in Situationen wie diesen so wichtig. Wir arbeiten Hand in Hand und tun alles, was wir können, um das Wohlergehen von Shahed und ihrer Familie sicherzustellen.“
Das Mädchen kehrt ins Zelt zurück, indem sie sich auf die Krücken stützt, die ihr Handicap International gegeben hat. Schüchtern setzt sie sich neben ihren Vater. „Was für ein Leben haben wir hier in Khazer?“ fragt Firas und nimmt seine Tochter in den Arm. „Für meine Tochter ist es nicht leicht, sich im Camp zu bewegen. Es ist nicht an ihre Umstände angepasst. Mein grösster Wunsch ist es jetzt, den Irak zu verlassen und im Ausland Asyl zu beantragen. Es ist mir egal, in welchem Land, ich will einfach nur weg von hier. Ich kann die Vergangenheit nicht auslöschen. Aber ich muss irgendwie vorwärts gehen. Der Zukunft meiner Kinder zuliebe.“
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Nadia Ben Said
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