Erfahrungsberichte unserer Teams in der Ukraine zum 24. Februar 2022

Gesundheit und Prävention Nothlife
Ukraine

Seit dem 24. Februar 2022 und dem Beginn des gross angelegten militärischen Angriffs in der Ukraine werden die wichtigen Städte des Landes intensiv bombardiert. Unser Team mit mehr als 170 Fachkräften ist vor Ort und kümmert sich um die am meisten gefährdeten Menschen. Nach einem Jahr erzählen uns einige unserer Teammitglieder und Partner, wie sie den 24. Februar 2022 erlebt haben. 

HI-Sozialarbeiter Vadim Loktionov kommt in einem Zentrum für Binnenvertriebene in Dobrovilla an.

Einer unserer Sozialarbeiter kommt in ein Zentrum für intern Vertriebene in Dobrovilla. | © HI

Natalya: Freiwillige

Ich erinnere mich gut an den 24. Februar 2022. Wir haben nicht daran geglaubt. Wir konnten einfach nicht glauben, dass der Krieg bis zu uns gelangt war. Dass Millionen von Ukrainern fliehen würden und dass Millionen von Menschen hier bei uns eine schwere Zeit durchmachen würden. Die Kampfhandlungen waren ganz in der Nähe, wir konnten alles hören. Aber wir haben zu Gott gebetet, dass die Feindseligkeiten uns nicht treffen. Ich habe die Unterstützung meiner Familie. Ich habe einen erwachsenen Sohn und drei Enkelkinder. Ich träume davon, eines Tages arbeiten zu gehen.

Ich habe ein ganzes Jahr lang auf eine Prothese gewartet. Wegen des Krieges hat sich die Herstellung von Prothesen in der Ukraine verlangsamt. Deshalb musste ich ein ganzes Jahr warten. Ich freue mich, dass ich mich bereit erklärt habe, als Freiwillige bei der HI-Schulung «Prothese & Orthese» mitzuwirken.

Lilia Tkachuk: Leiterin unseres Gesundheitsprojekts

Der 24. Februar war für alle Ukrainer derselbe Tag, und doch hat jeder seine eigene Geschichte zu erzählen.
Es war beängstigend. Mein Mann arbeitete in Kiew und rief mich um 5:30 Uhr morgens an, um mir zu sagen, dass der Krieg begonnen hatte. Er brauchte zwölfeinhalb Stunden, um von Kiew nach Hause zu kommen. Er sagte mir, ich solle unsere Kinder nehmen, die Sachen packen und auf ihn warten. Danach sahen wir rund um die Uhr Nachrichten, alle im gleichen Zimmer. Alle hatten Angst. Mein Mann wollte mit uns ins Ausland fahren, aber wir wollten nicht. Ich habe eine Mutter und zwei Kinder. Wir schauten Nachrichten und meine Kinder fragten immer wieder: «Mama, Mama, müssen wir wirklich gehen?» Mein Mann ging in den Osten der Ukraine, und ich blieb mit meinen Kindern zurück. Er wurde in Sjewjerodonezk verletzt, als er auf eine Mine trat. Die Explosion war sehr stark und er hatte Glück, dass er überlebte. Seine Lunge wurde durchbohrt und er hat viele tiefe Narben. Bis jetzt hat er einen langen Rehabilitationsprozess durchlaufen.

Das Schwierigste für mich in diesem Krieg ist die Ungewissheit. Wenn Sie keinen Kontakt zu Ihrem Mann haben, wissen Sie nicht, was mit ihm passiert ist oder wo er gerade ist. Sie wissen nicht, ob ihr Schutzengel mächtig genug ist, um die liebste Person zu schützen. Dies ist eine erschreckende Erfahrung und führt zu grossem Leid. Der Krieg hat uns ein anderes Verständnis dafür gegeben, was Familie bedeutet. Man hat nur einander.

Wenn ich mich an die internationale Gemeinschaft wenden könnte, würde ich sagen, dass das, was getan wurde, nicht ausreicht. Es ist gut, dass sie uns helfen, aber wir müssen Leben retten und alles tun, um das Blutvergiessen zu stoppen. Es ist eine Sache, in Europa kein Gas zu haben, aber eine andere, wenn Kinder ihre Eltern nicht mehr sehen können. Ich erinnere mich an die Worte eines ukrainischen Dichters: «Wie könnt ihr so blind sein, oh, Nationen? Heute sind wir an der Reihe, morgen – ihr.»

Nazar Berezniuk: Physiotherapeutin in der Abteilung für akute Rehabilitation des Ohmatdyt-Kinderspital in Kiew

Meine Kolleginnen und Kollegen, die am 24. Februar arbeiteten, haben hier im Spital bei ihren Familien gelebt. Als ich zur Arbeit kam, bin ich auch geblieben. Damals wurde die Stadt stark bombardiert. Ich musste einen Weg finden, um zu helfen. Meine Frau und meine Kinder waren in Sicherheit, aber ich hatte meine zweite Familie hier: mein Team. Ich hörte Explosionen ganz in der Nähe.

Ich war während des Fliegeralarms mit meinen Kollegen zusammen und alle hatten Angst. Für mich stand alles still und ich beobachtete einfach, was passierte. Mir wurde klar, dass bald schwer verletzte Menschen in unser Spital gebracht werden würden. Seit Beginn des Krieges hat unser Spital viele Verwundete aufgenommen: Kinder und Erwachsene. Ich habe viele Patienten mit Kriegsverletzungen behandelt. Am Anfang war es sehr schwierig: Wie spricht man mit Kindern, deren Haus von einer Rakete getroffen worden war? Wenn wir vor dem Krieg mit den Kindern sprachen, waren die Probleme anders: Beispielsweise, wie wir sie davon überzeugen konnten, ihre Übungen zu machen, statt Cartoons zu schauen. Jetzt geht es um ganz andere Dinge. 

Natürlich gab es vorher schon Amputationen, aber meist aufgrund von Verletzungen bei Verkehrs- oder Zugunfällen. Die Anpassung von Prothesen wurde separat durchgeführt und wir waren nicht daran beteiligt. Jetzt wollen wir eine gemeinsame Zusammenarbeit mit Spezialisten für Prothesen auf die Beine stellen, damit alles in einem Spital durchgeführt werden kann. Wir wollen unser Spital als Basis für ein grosses Zentrum für Prothetik und Rehabilitation nutzen. 

HI hat uns geholfen, den ersten grossen Schritt zu machen. Es war für uns sehr wichtig, glaubwürdige Informationen von Personen zu erhalten, die Erfahrung mit Prothesen und Rehabilitation haben. Ich habe es selbst erlebt, als ich ein Mädchen mit einer Prothese behandeln sollte und nicht wusste, welche Übungen passend waren.

Ich habe überall gesucht, auch im Internet, und meine Freunde angerufen, denn ihre Eltern wollten, dass die Prothese in der Ukraine hergestellt wird und die Rehabilitation auch hier stattfindet. Ich antwortete, dass ich es schaffen könne, aber viel Hilfe benötigen würde. Deshalb habe ich mich auf die heutige Schulung gefreut. 

Unsere Unterstützung für das Gesundheitspersonal

Die Beschäftigten im Gesundheitswesen sind von den Folgen des Krieges persönlich betroffen und müssen gleichzeitig die Kraft aufbringen, den Patienten professionelle Unterstützung und Hilfe zukommen zu lassen. Im ganzen Land gibt es in Zentren wie dem in Vinnytsia mehr Burnouts und sie benötigen Unterstützung für ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, damit sie ihre Dienstleistungen weiter anbieten können. 
Wir haben daher psychosoziale und rehabilitorische Schulungen durchgeführt, um das Personal in diesem medizinischen Rehabilitationszentrum in Vinnytsia zu unterstützen. 

«Neben Schulungen konzentrieren wir uns auf die Selbsthilfe der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und die Stärkung ihrer Widerstandsfähigkeit in diesen schwierigen Zeiten. Dies verbessert indirekt die Qualität der Rehabilitationsleistungen, die sie erbringen.» - Lilia Tkachuk Leiterin unseres Gesundheitsprojekts)

Erfahren Sie mehr über alle Projekte, die wir seit Februar 2022 in der Ukraine durchführen

22 Februar 2023
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